Kenia ist eine junge Gesellschaft. Drei Viertel der Kenianer sind jünger als 25 Jahre. Bei rapidem gesellschaftlichen Wandel und sozialer Unsicherheit sind die Familie und darüber hinaus die Ethnie ein wichtiger Bezugspunkt.
Anteil alphabetisierte Erwachsene
78,7 % der über 15-Jährigen (HDR 2018)
Bedeutende Religionen
Christentum ca. 80 %, Islam ca. 10 %, Indigene
Städtische Bevölkerung
27,0 % (HDR 2018)
Lebenserwartung w/m
68,7 / 64,0 HDR 2018 (2017: 69,7 / 64,9 Jahre)
Gender Inequality
0,545, Rang 134 von 162 (HDR 2018)
Anzahl der Geburten
3,49 pro Frau (Weltbankdaten für 2018)
Kindersterblichkeit der unter 5-Jährigen
45,6 auf 1000 Geburten (HDR 2018)
Hybridgesellschaft im Wandel
Zur vielbeschworenen Vielseitigkeit Kenias gehört seine ethnische Vielfalt. Auch wenn sich junge, gebildete Großstädter heute weniger auf ihre Ethnie als Bezugspunkt berufen als früher, so spielt die Frage der ethnischen Herkunft doch noch immer eine bedeutende Rolle in der Gesellschaft. Dass beim Zensus 2009 erstmals mehr Kalenjin gezählt wurden als Luo, floss in die Arithmetik der Wahlprognosen ein. Mit Spannung waren die Ergebnisse des Zensus› 2019 erwartet worden, die die Nationale Statistikbehörde im Februar 2020 online stellte, die Datenbasis für die Analyse der
gesellschaftlichen Wirklichkeit. Demnach war die Bevölkerung seit 2009 bis August 2019 von 37,7auf 47,6 Millionen Einwohner gestiegen; das Wachstum flachte sich seitdem ab von 2,7 auf 2,2 Prozent. Die größten ethnischen Gruppen blieben in der Reihenfolge von 2009 Kikuyu, Luhya, Kalenjin, Luo und Kamba.
Für viele Kenianer bleibt die Zugehörigkeit zu einer Ethnie ein bedeutendes Element ihres sozialen Netzwerkes, wichtig bei Jobsuche und in Krisensituationen. Menschen in der Umgebung zu wissen, die dieselbe Muttersprache sprechen, ist für viele Bewohner der Millionenmetropole Nairobi nicht unwichtig, auch wenn Politiker nicht gerade mit Mitteln des Tribalismus um Wählerstimmen buhlen und Menschen unterschiedlicher Ethnien gegeneinander aufhetzen. Doch gehören auch Menschen dazu, die sich aufhetzen lassen, und nicht wenige Kenianer erwarten von ihrem Abgeordneten eine Art lokaler Patronage und dass er seine Ethnie gegenüber anderen bevorzugt.
Mehr als 40 Ethnien zählt das Land und noch mehr Sprachen, einige vom Aussterben bedroht. Die Berufung auf Tradition – und damit sind Traditionen der Ethnien gemeint – spielt in Kenia auch im 21. Jahrhundert eine wichtige Rolle, ob bei den Übergangszeremonien der Samburu oder Massai oder bei der Namenswahl der Kikuyu.
Dass jemand mit dem Mountainbike und ein bis zwei Handys unter der Shuka, dem roten Gewand der Massai, zu einer Hochzeit aufbricht, ist nicht ungewöhnlich. Von hybriden Gesellschaften sprach der Journalist Bartholomäus Grill und meinte damit die Gleichzeitigkeit von Tradition und Anpassung an die Erfordernisse von heute. Ein Nomade treibt sein Vieh über die tansanische Grenze, als ob es sie wie vor 200 Jahren nicht gäbe. Gleichzeitig schickt seine christlich getaufte Frau die Söhne in die Schule statt zum Ziegenhüten und baut neben der Hütte Gemüse an. Ethnizität und Tradition sind nichts Statisches und müssen keineswegs zwangsläufig zum politisierten Tribalismus führen.
Da keine Ethnie in Kenia von der Zahl her dominant ist (außer in einigen Counties), gab es seit der Staatsgründung politisch immer eine Notwendigkeit, Bündnisse zu schließen, wollte man die Macht erlangen oder halten. Minderheiten, die nicht Teil starker Bündnisse wurden, gerieten ins Hintertreffen. Politische Gegnerschaft muss aber nicht in Form ethnischer Polarisierung ausgetragen werden und darf es laut Verfassung theoretisch neuerdings auch nicht mehr. Verschiedene Institutionen haben die Aufgabe, Hasstiraden und Milizenbildung zu unterbinden und einen nationalen Konsens zu fördern.
Wer sich für kenianische Kulturen noch vor und zu Beginn der Kolonialzeit interessiert, wird in der Kikuyu-Ethnographie Facing Mount Kenya fündig, die der spätere Staatsgründer Jomo Kenyatta 1938 als Stipendiat in London veröffentlichte. Zu dieser Zeit waren die Kikuyu bereits seit fast 50 Jahren fest in das koloniale System integriert, die Kultur der meisten Kikuyu geprägt von Arbeitsmigration und dem Leben als Landarbeiter auf den Großfarmen der weißen Siedler oder als Arbeiter, Hauspersonal und Bürohelfer in der Kolonialverwaltung. Wie war es, als der weiße Mann kam, fragte die Romanautorin Elspeth Huxley zu Beginn des 20. Jahrhunderts die alten Kikuyu. «Red Strangers», heißt das Resultat, das weit entfernt ist von kolonialer Romantik einer Karen Blixen. Die Autobiografie der Friedensnobelpreisträgerin Wangari Maathai, «Unbowed», gibt Aufschlüsse, wie die Kikuyu die Mau-Mau-Ära und den Aufbruch in die Unabhängigkeit erlebten und liefert ebenso spannende Einblicke in die politische Kultur der bleiernen KANU-Jahre.
Eine Inszenierung von Massai-Kultur und ethnopolitischen Forderungen bietet die Seite Maasai Online der Maasai Association. Dass die Swahili-Kultur der Küste eine Jahrhunderte alte städtische Tradition beinhaltet, ist in Mombasa, den Ruinen von Gedi bei Watamu oder auf Lamu gut zu sehen.
Aus dem Alltag nicht wegzudenken, weder aus der Wirtschaft noch aus der Kultur, sind die Einflüsse der teils seit Jahrzehnten in Kenia beheimateten Flüchtlinge und Migranten. Sie kommen aus Zentralafrika wie der DR Kongo und dem Sudan, zu Hunderttausenden aber auch aus Somalia. In Nairobi ist ein ganzer Stadtteil in Anlehnung an die somalische Hauptstadt Little Mogadischu genannt worden, ein Mikrokosmos von besonderer wirtschaftlicher Bedeutung. Chancen und Risiken des Flüchtlingsdaseins sind dort exemplarisch nachzuvollziehen – wenn man sich denn hineintraut in das leider sehr schlecht beleumundete Viertel.
Neben den ethnischen Bezügen gibt es im Leben nahezu aller Kenianer zwei Faktoren im Sozialleben, die trotz aller Umbrüche und Modernisierungstendenzen nicht wegzudenken sind: Die Familie. Und das Land. Gemeint ist das Land der Vorfahren. Manche Gruppen müssen ihre Verstorbenen auf «Stammesland» bestatten, was beispielsweise für eine Luo-Familie in Nairobi, die den toten Angehörigen Hunderte Kilometer bis Kisumu zu begleiten hat, mit Kosten und Aufwand verbunden ist. All das ist im Aufbruch, und keine Aussage kann pauschal getroffen werden, außer der, dass Kenia eine sehr junge Gesellschaft ist, die zu nahezu 40 Prozent aus Kindern unter 14 Jahren besteht.
Die Mehrgenerationenfamilie bildet bis heute neben dem sozialen Rückgrat der Gesellschaft auch einen hierarchischen Rahmen für jeden Einzelnen, auf dem Land und unter den Nomaden vielleicht noch stärker als unter den unabhängigeren Mittelständlern der Großstädte. Es ist eine Altershierarchie und es ist ein Machtverhältnis, in dem Männer mehr zu sagen haben als Frauen. «Schlag sie und sie weiß, dass Du sie liebst», wird der Abgeordnete Wafula Wabuge mit einem Rat für den Umgang mit Frauen zitiert. Das war 1979.
Dass Kenias Parlament sich bis heute weigert, Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe zu stellen, ist für Kenias politisch bewusste Frauen ebenso ein Unding wie der Sextourismus (den ganz besonders die Deutsche Lea Ackermann mit ihrer Organisation Solwodi bekämpft). Die noch immer praktizierte und verbreitete Genitalverstümmelung (FGM) von Frauen und Mädchen gehört zu den größten Herausforderungen in Kenia, nicht nur für Frauenrechtlerinnen, sondern auch für die Gesundheitspolitik und die Medizin. Und natürlich für die Betroffenen selbst, die beginnen sich zu wehren. Über ein Fünftel der Mädchen und Frauen zwischen 15 und 49 Jahren ist beschnitten, schätzt UNICEF. Diese Praxis, die je nach Ethnie in unterschiedlich extremen Formen Anwendung findet, ist seit vielen Jahren gesetzlich verboten; aber Verbote führen nicht unbedingt zu einer Verhaltensänderung, sondern oft auch nur zu einer Ausübung der archaischen Tradition im Verborgenen oder zu einer Vorverlegung der Tat, sodass sich die Kinder nicht dagegen wehren können.
Am unteren Ende der sozialen Skala befinden sich jedenfalls oft die Kinder und ganz unten die Mädchen, die zum Wasserholen geschickt werden statt in die Schule und nach ihrer Verstümmelung jung heiraten müssen. Fast ein Viertel der Mädchen wird vor ihrem 18. Geburtstag und 4 Prozent werden vor ihrem 15. Geburtstag verheiratet. 15 Prozent der Mädchen zwischen 15 und 19 Jahren sind bereits Mütter, ergeben Daten aus dem Jahr 2014 – Zahlen, die sich wenig ändern.
Trotz beachtlicher Fortschritte insbesondere in der Sphäre der politischen Präsenz hätten die Frauen noch viele Hürden zu überwinden, fasst das britische Institut für Entwicklungsstudien in einem Überblick das Geschlechterverhältnis in Kenia zusammen. Selbst die Produktivität in der Landwirtschaft leide unter der strukturellen Benachteiligung der Frauen in der Gesellschaft, heißt es in einer Studie der UN.
Dass Homosexualität in Kenia vielen als unafrikanisch und unmännlich gilt und unter Strafe steht, entspringt ebenfalls einem Traditionsbewusstsein, das inzwischen von schwulen Aktivisten offen als fehlgeleitet kritisiert wird. Doch weder Parteien und schon gar nicht die Kirchen stehen dieser Minderheit zur Seite.
Die Texte stammen vom Länderportal der GIZ, welches vom Netz genommen ist. Verfasser ist der Historiker und Journalist Stefan Ehlert. Die Urheber wurden informiert, dass auf meiner Tourismusseite zu Kenia die Inhalte veröffentlicht werden.